Der EuGH und das Fernabsatzwiderrufsrecht bei Prolongationen von Kredit- und Darlehensverträgen

Der EuGH befasst sich im Verfahren C-639/18 mit einer für Verbraucher und Darlehensnehmer höchst relevanten Frage. Kann eine Zinsprolongation eines Verbraucherdarlehensvertrages Gegenstand eines Fernabsatzvertrages sein und damit ein Widerrufsrecht für Verbraucher nach den Regelungen des Fernabsatzes nach §§ 312 ff. BGB auslösen.

Der EuGH hat die Vorlagefrage des LG Kiel noch nicht entschieden, allerdings hat sich die Generalanwältin in dem Verfahren C-639/18 mit Ihren Schlussanträgen zu Wort gemeldet. Diese sieht einiges anders als der BGH.

Sollte der EuGH dem Vorschlag der Generalanwältin folgen, würde dies weite Teile der bisherigen Rechtsprechung in Deutschland zum Widerrufsrecht von Prolongationen von Darlehens- und Kreditverträgen und sofern es reine Zinsprolongationen sind, auch Forward Darlehen betreffen.

Der BGH hat ein Widerrufsrecht für Fernabsatzverträge nach §§ 312 ff. BGB bei Zinsprolongationen von Darlehensverträgen bisher abgelehnt (u.a. BGH 15.01.2019 – XI ZR 202/18). Der BGH sieht bei Konditionsanpassungen von Darlehens- und Kreditverträgen keinen Rechtsgrund für ein erneutes Widerrufsrecht. Weder würde ein Widerrufsrecht für Verbraucherdarlehensverträge nach § 495 BGB begründet, noch nach den Regelungen des Fernabsatzes nach §§ 312 ff. BGB.

Im ersten Fall besteht kein Widerrufsrecht, weil es kein neuer Darlehensvertrag ist und das Kapitalnutzungsrecht des Verbrauchers unverändert bleibt.

Im zweiten Fall wäre ein Widerrufsrecht nach § 495 BGB nach Wortlaut und Systematik des deutschen Rechts ausgeschlossen, da diese Konditionsanpassungen von vornherein vertraglich im Darlehensvertrag vorgesehen seien und das Gesetz damit ein Fernabsatzwiderrufsrecht wegen des Vorrangs des Verbraucherdarlehenswiderrufsrechts nach § 495 BGB ausschließt und dieses wie dargestellt, nicht erneut gilt, weil eben kein (rechtlich) neuer Darlehensvertrag geschlossen wurde.  

So im Wesentlichen der Tenor der bisherigen BGH-Rechtsprechung.

Eine Vorlage der Frage, ob eine Prolongation eines Darlehensvertrages ein Fernabsatzvertrag von Finanzdienstleistungen im Sinne des Fernabsatzwiderrufsrechts für Verbraucher sein kann, lehnt der BGH ab.

Die Auslegung des BGHs von Unionsrecht sei so offenkundig richtig, dass für vernünftige Zweifel kein Raum bleibt und damit keine Vorlage an den EuGH notwendig ist (BGH 15.01.2019 – XI ZR 202/18). Landgerichte die ihrerseits diese Frage hingegen dem EuGH vorgelegt haben oder wollten, weißt der BGH als fehlerhaft aus (BGH 15.01.2019 – XI ZR 202/18).

Bereits an dieser Stelle setzt die Einlassung der Generalanwältin im Verfahren C-639/18 ein.

„Das vorlegende Gericht erklärt, dass zur Anwendung des nationalen Rechts auf den ihm vorliegenden Streitfall Hinweise zur richtlinienkonformen Auslegung erforderlich seien. Dem füge ich hinzu, dass ich – anders als die Sparkasse Südholstein – die Antwort auf die Fragen des vorlegenden Gerichts nicht für „offenkundig“ halte; noch weniger teile ich die Auffassung, es sei nicht erforderlich, dass der Gerichtshof dem nationalen Gericht bei der Auslegung der einschlägigen Bestimmungen des Unionsrechts helfe.“

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN ELEANOR SHARPSTON vom 12. März 2020(1) Rechtssache C‑639/18

Die Generalanwältin hält anders als der BGH eine Vorlage der Frage, ob eine Zinsprolongation von Darlehensverträgen eine Finanzdienstleistung im Sinne des Art 2 Buchst. a der Richtlinie 2002/65/EG sein kann und mithin ein Widerrufsrecht für Verbraucher nach dem Fernabsatzrecht entsprechend §§ 312 ff. BGB auslösen kann, für sachdienlich.

Ganz konkret hat das LG Kiel mit Entscheidung vom 07.09.2018 Az. 12 O 92/18 folgende Fragen dem EuGH vorgelegt:

„1. Wird im Sinne des Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 2002/65/EG ein Vertrag „im Rahmen eines für den Fernabsatz organisierten Vertriebs- bzw. Dienstleistungssystems des Anbieters geschlossen“, mit dem ein bestehender Darlehensvertrag ausschließlich hinsichtlich der Höhe der vereinbarten Verzinsung geändert wird (Anschlusszinsvereinbarung), wenn eine Filialbank Darlehensverträge zur Immobilienfinanzierung mit grundpfandrechtlichen Sicherheiten nur in seinen Geschäftsräumen abschließt, jedoch in laufenden Geschäftsbeziehungen Verträge zur Änderung bereits geschlossener Darlehensverträge zum Teil auch unter ausschließlicher Verwendung von Fernkommunikationsmitteln abschließt?

2. Liegt ein „Finanzdienstleistungen betreffender Vertrag“ im Sinne des Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 2002/65/EG vor, wenn ein bestehender Darlehensvertrag ausschließlich hinsichtlich der vereinbarten Verzinsung geändert wird (Anschlusszinsvereinbarung), ohne die Laufzeit des Darlehens zu verlängern oder dessen Höhe zu verändern?“

LG Kiel 07.09.2018 Az. 12 O 92/18

Die erste Frage zielt darauf ab, ob ein Kreditinstitut, das sonst planmäßig keine Fernabsatzverträge bei Darlehensverträgen anbietet, im Rahmen der standardmäßigen per Post stattfindenden Prolongationen von Darlehensverträgen damit dem Fernabsatzrecht unterfällt.

Die Zweite Frage befasst sich damit, ob eine Zinsprolongation von Darlehensverträgen überhaupt eine Finanzdienstleistungen betreffender Vertrag ist und damit Gegenstand des Fernabsatzwiderrufsrechts sein kann.

Die Generalanwältin beantwortet die zweite Frage zuerst.

Die deutsche Regierung und die hier betroffene Bank sehen es wie der BGH:

„Nach Ansicht der Sparkasse Südholstein und der deutschen Regierung sind die Bestimmungen der Richtlinie 2002/65 nicht auf Anschlusszinsvereinbarungen anwendbar. Eine solche Vereinbarung betreffe lediglich die Hauptverpflichtung des Verbrauchers aus dem Darlehensvertrag und nicht die anderen Aspekte des Vertrags. Eine Zinsvereinbarung sei daher nicht als selbständiger Vertrag anzusehen.“

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN ELEANOR SHARPSTON vom 12. März 2020(1) Rechtssache C‑639/18

Die Generalanwältin nimmt dabei auf das hier genannte BGH Urteil vom 15.01.2019 – XI ZR 202/18 Bezug und beantwortet die vorgelegten Fragen konträr zur bisherigen BGH-Rechtsprechung.

„Diese Entscheidung basierte nach meinem Dafürhalten ausschließlich auf das nationale Recht betreffenden Erwägungen. Wie bereits vorstehend (in Nr. 45) erläutert, bewirkt diese Richtlinie 2002/65 grundsätzlich eine Vollharmonisierung der nationalen Rechtsvorschriften und muss in allen Mitgliedstaaten einheitlich ausgelegt werden(32). Der Umstand, dass eine Anschlusszinsvereinbarung in einer bestimmten nationalen Rechtsordnung als Teil der ursprünglichen Darlehensvereinbarung klassifiziert wird, ist somit für die Auslegung des Begriffs des „Fernabsatzvertrags“ nach Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 2002/65 sowie des Begriffs der „Vorgänge“, für den die Bestimmungen der Richtlinie nach Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie nicht gelten, nicht von Belang. Die Richtlinie schließt ausdrücklich nur gewisse „Vorgänge“ von der Anwendung ihrer Bestimmungen aus, und bei einer Zinsvereinbarung, die bei Ablauf der ersten Zinsvereinbarung geschlossen wird, handelt es sich aus den von mir genannten Gründen um einen neuen „Finanzdienstleistungen betreffenden Vertrag“(33).

Ich gelange daher zu dem Ergebnis, dass der Begriff „Finanzdienstleistungen betreffender Vertrag“ im Sinne von Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 2002/65 dahin auszulegen ist, dass er Anschlusszinsvereinbarungen, durch die weder die Laufzeit des Darlehens verlängert noch der Darlehensbetrag geändert wird, einschließt. Eine solche Vereinbarung ist kein „Vorgang“ im Sinne von Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2002/65, und sie unterliegt den Bestimmungen der genannten Richtlinie.“

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN ELEANOR SHARPSTON vom 12. März 2020(1) Rechtssache C‑639/18

Im Ergebnis führt die Generalanwältin damit aus, dass Zinsprolongationen von Darlehensverträgen Finanzdienstleistungen im Sinne des Fernabsatzwiderrufsrechts für Verbraucher sein können und vom Fernabsatzwiderrufsrecht gerade nicht ausgeschlossen werden.

Damit könnte ein Widerrufsrecht bei Zinsprolongationen von Kredit- und Darlehensvertägen in Betracht kommen.

Die Generalanwältin weist dabei vor allem darauf hin, dass die zugrundeliegende Richtlinie 2002/65 auf eine Vollharmonisierung des Rechts in der EU abzielt. Eine Auslegung rein nach nationalen Gegebenheiten und damit abweichende Auslegung von anderen EU-Staaten oder eben der Ansicht des EuGHs sieht sie als unzulässig an.

Dies Bedeutet, dass nach Ansicht der Generalanwältin nicht nur zu Recht vom Lg Keil vorgelegt wurde und sogar vorgelegt werden musste, sondern auch die bisherige Auslegung des BGHs von der EU-Richtlinie, die angeblich so offenkundig wie richtig ist, unzutreffend wäre.

Bezüglich der ersten vorgelegten Frage, ob Fernabsatzverträge bei Prolongationen von Darlehensverträgen vorliegen können, auch wenn die Bank die Vergabe von Darlehensverträgen nicht im Fernabsatz anbietet und damit die Regelungen des Fernabsatzrechts gelten, beantwortet die Generalanwältin auch im Sinne der Verbraucher.

Es ist nicht erforderlich, dass der ursprüngliche Darlehensvertrag im Wege des Fernabsatzes geschlossen wurde. Für die Annahme des Fernabsatzes für eine Prolongation eines Darlehensvertrages reicht es aus, wenn die Bank regelmäßig für den Abschluss der Prolongation ausschließlich Fernkommunikationsmittel einsetzt und dies Teil des üblichen Geschäftsablaufs der Bank ist.

Dies dürfte damit für so ziemlich jede Bank gelten, die ihre Zinsprolongationen von Kredit- und Darlehensverträgen überlicherweise ohne persönlichen Kontakt vor Ort durchführt oder dies zumindest anbietet und daraufhin die Prolongation so abgeschlossen wird.

Die Quintessenz der Vorlage der Generalanwältin ist, Zinsprolongationen von Darlehens- und Kreditverträgen können dem Fernabsatzrecht unterfallen, wenn sie unter ausschließlicher Verwendung von Fernkommunikationsmitteln zustandekommen und dies von der Bank geschäftsmäßig so angeboten wird.

Damit würde anders als es der BGH bisher sieht, für jede Zinsprolongation dieser Art ein Widerrufsrecht für Fernabsatzverträge nach den §§ 312 ff. BGB bestehen. Es wäre insoweit über das Widerrufsrecht zu belehren gewesen. Den Verbrauchern stünde somit in vielen Fällen bei fehlender oder falscher Widerrufsbelehrung ggf. auch heute noch ein Widerrufsrecht zu.

Der Widerruf einer Prolongationsvereinbarung eines Darlehensvertrages hätte nach bisheriger BGH-Rechtsprechung anders als der Widerruf des Darlehensvertrages nicht den Wegfall bzw. Rückabwicklung des gesamten Darlehensvertrages zur Folge, sondern nur die Rückabwicklung der widerrufenen Prolongation. Der zugrundeliegende Darlehensvertrag würde fortbestehen, soweit er noch nicht zurückgezahlt ist. Für den Darlehensvertrag wäre ggf. eine Kündigung notwendig oder er würde nach den Grundsätzen fortbestehen, die im Darlehensvertrag für den Fall einer fehlenden Prolongationsvereinbarung vorgesehen sind.

In vielen Fällen kann dies allerdings von Vorteil sein, insbesondere wenn der Darlehensvertrag kurzfristig getilgt oder beendet werden soll, da mit dem Widerruf der Prolongation die Zinsbindung wegfällt und damit eine i.d.R. kurzfristige Kündigungsfrist gilt, die es der Bank nicht ermöglicht hohe Vorfälligkeitsentschädigungen zu verlangen.

Es bleibt zunächst allerdings abzuwarten, wie der EuGH in der Sache C-639/18 Entscheiden wird und wie die nationalen Gerichte sodann ggf. darauf reagieren werden.

Update vom 26.06.2020: Mittlerweile hat der EuGH in der Sache entschieden und ist nicht der Generalanwältin gefolgt.

Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. September 2002 über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen an Verbraucher und zur Änderung der Richtlinie 90/619/EWG des Rates und der Richtlinien 97/7/EG und 98/27/EG ist dahin auszulegen, dass eine Änderungsvereinbarung zu einem Darlehensvertrag nicht unter den Begriff „Finanzdienstleistungen betreffender Vertrag“ im Sinne dieser Bestimmung fällt, wenn durch sie lediglich der ursprünglich vereinbarte Zinssatz geändert wird, ohne die Laufzeit des Darlehens zu verlängern oder dessen Höhe zu ändern, und die ursprünglichen Bestimmungen des Darlehensvertrags den Abschluss einer solchen Änderungsvereinbarung oder – für den Fall, dass eine solche nicht zustande kommen würde – die Anwendung eines variablen Zinssatzes vorsahen.

EuGH Urteil vom 18.06.2020 C-639/18